Alltagstress, Impulsivität und andere Trigger

You are currently viewing Alltagstress, Impulsivität und andere Trigger

Wütend wässere ich meine Pflanzen im Garten. Meine Mutter hatte sich heute morgen telefonisch beschwert, dass ich sie vergessen würde und mir eben alles andere wichtiger wäre. „Du kannst doch deine Blumen nicht mit dem harten Strahl wässern. Du musst ihn weich einstellen, damit die Tropfen leicht über die Blumen rieseln“ torpedierte Nachbars Stimme wie Hagelkörner mein schon angeschlagenes Nervenkostüm. Ich trug ein rotes, nervliches Minikleid. Knapp und eng straffte es sich innerlich um mein schlechtes Gewissen und der ungerechtfertigten Kritik meiner Mutter. Abrupt drehte ich mich um, zielte auf meinen Nachbarn und schoss mit der Gartenpistole. „Spinnst du?“ gurgelte es aus dem Wasserstrahl. „Sorry“ war ein Reflex, log ich. Damit stellte ich den Strahl ein, rollte den Schlauch samt meiner impulsiven Reaktion zusammen und zog mich in meine Wohnung zurück.

„Wie fühlen Sie sich heute?“, fragt mich meine Therapeutin.

“ Ich fühle mich seit gestern wie ein tranchiertes Huhn. Meine Reaktion schockt mich. Ich bin total verrückt geworden.“ Sie runzelt leicht die Stirn, notiert etwas in ihrem Buch.

Auslöser, Reize und Reaktionen

„Ihr Nachbar hat etwas in Ihnen ausgelöst, was tiefer in der Vergangenheit wurzelt. In der Psychologie sprechen wir von Triggern. Kennen Sie Situationen aus ihrer Kindheit, in denen Ihnen vorgeschrieben wurde, wie sie Dinge zu erledigen haben?“ Sie schaut mich über ihre Brille hinweg an.

„Eventuell habe ich bei meinem Nachbarn etwas heftig reagiert, aber gleich wie ein Pflug, durch die unterbewussten Gräben meiner Kindheit zu ackern, ist völlig übertrieben“, entgegne ich etwas zu forsch. Sie notiert sich erneut etwas.

Sie erklärt mir einige Zusammenhänge von Triggern, impulsiven Verhalten und unverarbeitetem Trauma. Sie bat mich, im Alltag auf Situationen zu achten, auf die ich sehr emotional reagiere und diese für die nächste Sitzung zu notieren.

„Es wäre leichter, auf Situationen zu achten, die keinen emotionalen Stress auslösen“. Mit meinen Worten verabschieden wir uns voneinander.

Triggersuche

Ich bin dennoch hochmotiviert und beginne gleich auf dem Rückweg mit meiner Selbstbeobachtung. Ampel steht ungewöhnlich lange auf rot, ein Fahrradfahrer überfährt mich fast auf dem Gehweg, meine Lieblingsschokolade ist ausverkauft, ein mir unbekannter Mensch lächelt mich an, an der Kasse muss die Kassenrolle gewechselt werden, ich stopfe mir eine Donut beim Gehen in den Mund, dabei will ich achtsames Essen praktizieren. Ich breche die Selbstbeobachtung nach 1 Stunde überfordert ab.

Für meinen Nachhauseweg entscheide ich mich heute für die Bahn. Ich stelle vorsichtshalber meinen Rucksack im Zug neben mich. Ich brauche unbedingt eine natürliche Barriere zwischen zu engem Körperkontakt, fremden Ausdünstungen und ungefragtem Small Talk. Die Vielfältigkeit der Platzhalter anderer Fahrgäste erstaunte mich. Anstelle des Badehandtuches frühmorgens auf der Sonnenliege am spanischen Urlaubspool, reservieren hier die Fahrgäste einen weiteren Sitzplatz mit Koffern, Rucksäcken, Möbelstücken, Handtaschen, Hunden, Katzen, Fertigpizzen, Blumensträußen und einem Getränkekasten. In Zeiten von Corona, steigenden Benzinpreise und zunehmender Rücksichtlosigkeit der Mitmenschen bin ich zusätzlich vorsichtiger bei der Nutzung öffentlichen Raumes geworden. Ein Artikel im Internet der eine steigende sexuelle Belästigung während der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln thematisierte, hatte mich zusätzlich alarmiert. Daher scannte mein Alarmsystem auf Hochtouren mein Abteil nach potentiellen Grabscher*innen.

„Ist da noch frei“? Spannt eine Stimme den Faden zurück zur Realität. Dabei penetriert er ungefragt meine Gedankengänge und mein subtiles Rucksack- Statement. Ich überlege kurz meine Therapeutin anzurufen. Was mache ich, wenn mein Wunsch nach Grenze dem eines Anderen widerspricht? Stresshormone fluten mich. Mein Mund wird trocken wie beim Verzehr von Brandt-Zwieback aus den 80ern, während ich ein leichtes Prickeln in meinem Kopf spüre, als hätte ich Ahoi Brause inhaliert.

Emoslogan

“ Wenn sie zwei Sitzplätze beanspruchen wollen, müssen sie zwei Fahrkarten samt zwei Sitzplatzreservierung vornehmen “ lädt ein paragraphenreitender, neunmalkluger Teenager mein Trigger Magazin nach. Meinen Wunsch nach Distanz, meiner sozialen Phobie und meinem aktuellem Problem, impulsives Verhalten zu kontrollieren stand er ahnungslos gegenüber wie ich der Selbstregulation von überflutenden Gefühlen.

Mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol feiern eine Party in meinem Körper. Ich bin zwar Gastgeber der Lokation, aber fühle mich irgendwie der Kontrolle beraubt. Spontan entsteht aus diesem Hormoncocktail die Idee von Emoslogan-Plaketten.

( emotionale, persönlich und aktuelle Info) , die ähnlich wie Namensschilder an der Kleidung getragen werden. Diese Kurzinfo über die derzeitige Verfassung des Trägers, z.B. Freund hat mich betrogen, Strom wurde abgedreht, Kitaplatz war wieder vergeben, bin befördert worden, frisch verliebt, sozialphobisch oder gestörte Stressregulation, könnte auch für Außenstehende sehr hilfreich sein.

Gängige Stigma funktionieren auch wie Plaketten, unsichtbare Stempel voller wertender Kategorien über andere Menschen. Meine Idee einer zusätzlichen Alternative, um das Schubladendenken einiger Menschen ein wenig bunter zu gestalten, nahm zeitgleich mit meiner Pulsfrequenz Fahrt auf. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine visuelle Emosslogan-Plakette einem unsichtbaren Stigma entgegen wirkt, waren nicht gering. Zudem hätte jeder Mensch die Möglichkeit, sich seinen Stempel selber zu stanzen. Meine Idee verselbstständigte sich weiter im Rausch der Stresshormone. Gerade als ich über Motto- Plaketten nachdachte, riss mich ein weiteres, genervtes „Hallo!“ aus meiner inzwischen visionären Geschäftsidee.

Hormonrausch

„Hallo, Hallo, Hallo“, äffte ich ihn nach, dabei machte mein Rucksack samt meiner impulsiven Reaktion für ihn Platz. Ungläubig schüttelte er den Kopf, wand sich ab und ging.

Meine Blicke torpedierten ihn. Rückblickend war ich sehr dankbar, keinen Gartenschlauch zur Hand gehabt zu haben. Meine Aufmerksamkeit wurde von einem weiteren Fahrgast gebannt. Seine Kopfhörer umfassten fast seinen gesamten Körper. Ich kramte hastig mein Notizbuch hervor. Dort notierte ich: Meine Welt ist voller Trigger, Kopfhörer kaufen.

Als ich zu Hause ankam, war ich erschöpft. Ich widerstand nicht der Versuchung, eine Flasche Sekt zur Beruhigung zu trinken. Ich verstand mich und die Welt noch weniger als am Morgen.

Fortsetzung folgt…