6.00 Uhr morgens. Ich bin noch sehr müde, lustlos und demotiviert. Dennoch ragt mein Hintern wie eine Berglandschaft in die Morgenluft. Ich pose gerade im herabschauendem Hund, diese Asana drückt mir jedes Mal meine Luft aus den Lugen. Dadurch ähnelt meine Atmung eher einer Dampflock als einem zarten Lufthauch. Ich konzentriere mich weiter auf meine Ein und Ausatmung, der zunehmende Druck in meinem Kopf wechselt sich mit unruhigen Gedanken ab. Wie dunkle Regenwolken hängen alltägliche Gedanken vor mir. Ich muss später noch einkaufen, die Abschlagszahlung von den Stadtwerken erhöhen, meine Mutter anrufen, vorher noch mit Käthe raus. So lasse ich mir heute tatsächlich meine achtsame Yogapraxis verregnen.
Inzwischen ist die Regenwolke zum Niederschlag von unerledigten To Dos mutiert. Langsam lasse ich meinen Körper absinken, um in die Kobra zu gleiten. Der Impuls, die Übung abzubrechen gewinnt zeitgleich mit der Schwerkraft. Mein Körper fällt im Sturzflug auf die Matte. Dort liegt er für einen kurzen Moment, völlig entspannt. Die Vorstellung hier einfach liegenzubleiben ist so verlockend, bis ich die Staubflusen unter meinem Bett wahrnehme. Meine aufkeimende Unzufriedenheit zieht mit einer Fanfare von schlechtem Gewissen an mir vorbei in die Küche, ich trotte hinterher.
Ich habe es mir so fest vorgenommen. Jeden Morgen eine Viertelstunde Yoga, direkt nach dem Aufstehen. Ich lächle milde meinen überhöhten Anspruch fort, freue mich über die fünf minütige Praxis. Ich erinnere mich an gänzlich andere Zeiten. Inzwischen entlässt meine Kaffeemaschine mit ihren Sound Yoga und Duft in den Tag.
Depressionen, Gefühle unter Eis
Vor Jahren ging es mir sehr schlecht. Die Blumen waren nicht bunt, die Vögel sangen nicht schön und in einer Welt voller, praller Möglichkeiten, fühlte ich mich wie ein Versager. Morgens glich meine Erschöpfung beinahe einem Koma. Das Atmen fiel mir damals so schwer. Meine Befürchtung, dass dadurch die Sauerstoffversorgung meines Körpers unzureichend wäre, wuchs. Dies löste oft eine Panikattacke aus. Logisches Denken war abstrakt. Durch eine erforderliche Behandlung mit Antidepressiva hatte ich zudem 30 Kilogramm zugenommen. 20 Kilogramm schienen davon auf meinem Brustkorb zu lasten, die anderen 10 Kilogramm versuchte ich vergeblich zu verdrängen. Nun litt ich an Depressionen und zusätzlich an meinem massivem Übergewicht.
“ Wollen sie das es Ihnen besser geht oder schlank sein?“ Hörte ich zu dieser Zeit öfter von behandelten Ärzt*innen. Die Optionen schien mir
1. fett, träge und etwas besser drauf
2. schlank, deprimiert und suizidal.
Gelinde gesprochen beide Alternativen schienen mir zu jener Zeit kein Lottogewinn.
Die Tabletten seien nicht der Auslöser für die Gewichtszunahme, sondern meine erhöhte Kalorienaufnahme. Diese Information schaffte für mich ein zusätzliches Problem. Nun beschlichen mich weitere Versagensgefühle. Kilogramm für Kilogramm wuchst nicht nur mein BMI. Wie Schneeketten an einem Autoreifen, legten sich winterliche Gedanken um meinen Geist. Dort drückten sie Spuren in eine schon vorhandene Schneelandschaft. Ich erfror innerlich immer weiter. Ich lag unter Eis.
Morgendliche Asanas schienen zu dieser Zeit genauso wenig praktikabel, wie eine aktuell zwingend notwendige Erhöhung der Grundsicherungssätze auf ein humanes Niveau.
Ich fühlte mich erfroren
Jene Erinnerungen samt aktueller Belastungen schwirren wie ein unruhiger Bienenstock durch meinen Kopf. In letzter Zeit bemerke ich wieder aufkommende innere Kälte. Ich fühle mich öfter ausgelaugt, unkonzentriert und schnell reizbar. Mich ängstigt der Gedanke, erneut unter eine Schneedecken verschwinden zu können. Mit einem weiterem Schluck Kaffee spüle ich mein Frösteln hinunter. Käthe, meine Bulldogge, sitzt vor mir auf dem Küchenboden. Ihre Lebensfreude in ihren braunen Augen fordern mich auf, die Haustür zu öffnen. Sie will Spuren in der Natur erkunden. Ich liebe und bewundere sie, für ihre Fähigkeit endlos im Hier und Jetzt zu leben.
Vier Stunden später sitze ich meiner Therapeutin gegenüber. Käthe liegt mir zu Füßen. „Mein Freund versteht mich einfach nicht“, eröffne ich das Gespräch. „Kommunikationsratgeber lehnt er ab und auch so scheint er innere Widerstände gegen fast alles zu haben“. Damit meine Therapeutin auch versteht wie brenzlich die Beziehungssituation ist, führe ich sein indiskutables Verhalten weiter aus. „Wirklich alles!“ betone ich. “ Vegane Ernährung findet er übertrieben, Kompromisse würden ihn in seinem autonomen Sein einschränken und psychische Probleme seien meist selber verantwortet“, schließe ich meine Aufzählung.
Glatteis in Beziehungen
„Er lässt sich überhaupt nicht auf mich ein.“ Ich erzähle meiner Therapeutin daraufhin von unserem gestrigem Streit. Wir sprachen über unseren Tag, als ich über meine Befürchtung erwähnte, erneut unter Depressionen zu leiden. Seine Anteilnahme war gelinde gesagt unterirdisch. Depressive Verstimmungen kenne er auch, das geht schon vorüber. Wie ein Schnupfen? fragte ich ihn. So ähnlich, entgegnete er, während er in seinem Smartphone scrollte. Ich habe das letzte Mal in meiner Depression 30 Kilogramm zugenommen. Diese Information ließ ihn von seinem Display aufschauen und mein Alarmsystem war online. Du findest mich also zu dick? Das hätte er so nicht gesagt. Aber gemeint platzte es aus mir heraus. Ich verstehe dich einfach nicht. Seine Äußerung ließen meine Wut samt Enttäuschung urplötzlich aus mir heraus knallen. Das Abladen von alten Kamellen machten auch keinen Halt. Mein Gefühlsaubruch erinnerte mich im Nachhinein an einen impulsiven Einkauf im Supermarkt. Eigentlich möchtest du nur etwas Obst, Gemüse und Brot besorgen. Doch fast automatisch füllt sich dein Einkaufswagen mit Dingen, die du nicht benötigst, nicht willst und dabei oft ungesund sind.
Auf Obst, folgte „nie nimmst du dir Zeit für mich“ und während Süßigkeiten sich zu Alkohol legten, fühlten meine Sätze den Wagen mit „Du liebst mich einfach nicht und wie es mir geht ist dir schnuppe“. So folgten der Fertigpizza, Cola und Weingummi haltlose Anschuldigungen und Androhungen, die Beziehung zu beenden. Während meiner Anklagen hatte ich definitiv den Moment verpasst, meinen Einkaufswagen aus der Beziehungszone zu schieben, ihn einfach stehenzulassen oder aus dem Raum zu gehen . Stattdessen stand ich an der Kasse, um zu bezahlen. Nur war der Kassierer mein Freund, dieser blickte mich entgeistert an und schloss die Haustür mit den Worten “ Wir sprechen morgen, ich schlafe heute besser bei mir.“
„Was meinen Sie, hätte dieser Einkauf bei Lidl gekostet? Ich bin überzeugt, am Anfang des Monats wäre ich blank gewesen.“ Damit schloss ich meine Ausführung. Verlegen und abwartend schaute ich meine Therapeutin an.
„Ich verstehe ihre Frage gerade nicht.“ Mich beschleicht ein ungutes Gefühl, ein Déjà-vu drängt sich mir auf. Entgeistert starre ich meine Therapeutin an. „Sie verstehen mich genauso wenig wie mein Freund „, entfährt es mir.
„Ich bin bemüht Sie zu verstehen. Mir ist jedoch unklar, was sie sich von Ihrem Freund erwartet haben und sich aktuell von mir wünschen?“
Diese Frage treibt mir die Tränen in die Augen, als ich ihr dabei von meiner Angst berichte, erneut unter Depressionen zu leiden.
„Seit wann geht es Ihnen schlechter?“
„Seit ich ihn kenne“, schoss die Antwort wie eine Kugel der Erkenntnis aus mir heraus. Gleichzeit arbeitet mein Gehirn an einer Lösung für das Problem. Er war zu einem Problem geworden. Mein Freund ist Verursacher meiner Depression und gleichzeitig die Lösung. Bingo. Ich lächelte.
„Welcher Anlass bringt sie zum Lächeln?“ die Frage meiner Therapeutin reißt mich kurz zurück in den Therapieraum.
Das Eis brechen
„Ich werde die Beziehung beenden“, strahle ich meine Therapeutin an. Sie runzelt die Stirn und notiert sich etwas.
“ In akuten Konfliktsituationen ist es ratsam, keine tiefgreifenden, spontanen Entscheidungen zu treffen. Sie schildern, es gehe ihnen nicht gut. Depressive Symptome verstärken oftmals auch die Art ihrer Wahrnehmung vom Leben, Erleben und auch von Beziehungen“.
Ihre Worte und Erklärungen spielen nur noch eine leise Hintergrundmelodie. Sie erzeugt ein angenehmes Rauschen in meinen Gedanken. Ich weiß was zu tun ist und fühle mich gut dabei.
Wir verabschieden uns voneinander. Käthe und ich nehmen den Bus zurück. Ich fühle mich beschwingt. Die Fahrgästen sind entspannt. Als ich um die Ecke zu meiner Wohnung biege, sehe ich ihn vor meiner Haustür stehen. In seiner Hand hält er eine Tüte von unserem Lieblingsdöner Laden, dort haben wir uns das erste Mal getroffen. „Lass uns zusammen dick werden“, dabei schwenkt er die Tüte über seinen Kopf. Sein Lächeln spiegelt seine Herzlichkeit. Sie lässt Schnee und Eis in mir schmelzen, genau wie meine übereilte Entscheidung, mich von ihm zu trennen. Ich lächle zurück.
Schlusswort
Ich und Die Welt sind kleine Episoden mit fiktiven Elementen, aus meiner Zeit, als ich ( auch mein Umfeld) noch unter vielen Symptomen einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung litt. Antidepressiva, Essen, Menschen, Therapien, … waren auf ihre Art Unterstützer und auch Begleiter in jener Zeit. Ich begann dem Kreislauf der Abhängigkeiten, Symptome, Krankheiten, Ängsten zu durchbrechen. Wider aller Erwartungen (auch meiner) veränderte ich mich und mein komplettes Leben. Mehr zu meinem Weg und Erfahrungen auf meinen Blogbeiträgen.